Wenn es zum Leben nicht mehr reicht

Die versteckte Armut

Ich als Kundenberater treffe immer wieder in meinen Beratungen Menschen an, deren Einkommen aus ihrer Arbeit gerade alle Fixkosten deckt und zu mehr nicht reicht. Bei vielen reicht es sogar schon nicht mehr aus, um regelmässig ihre Krankenkassenbeiträge zu bezahlen oder etwas für ihre private Vorsorge zu tun. Viele anspruchsberechtigte Personen für soziale Leistungen getrauen sich nicht, um z.B. eine Sozialhilfe zu beziehen, denn zu gross sind die eigenen Vorbehalte und die Angst vor der Stigmatisierung. Entsprechend lebt eine grosse Zahl von Personen in der Schweiz unter dem Existenzminium, was verheerende Langzeitfolgen nach sich ziehen wird.

Als heutiger Kundenberater

Ich kenne die täglichen Herausforderungen und Probleme, wenn zu wenig oder gar kein Geld mehr vorhanden ist. Es gab eine Zeit, in der mir oft die Mittel fehlten, um am kulturellen und sozialen Leben teilzunehmen oder Kollegen zum Essen einzuladen. Es gab sogar Zeiten, in denen ich nicht wusste, ob ich mir am nächsten Tag etwas zum Essen kaufen kann. Ich fühlte mich in der Gesellschaft immer mehr ausgegrenzt. Als Ausländer verweigerte ich den Gang zum Sozialamt, aus Angst dann ausgewiesen zu werden.

Was ist unsere Arbeit noch wert

Als ich 1992 in die Schweiz von Deutschland übersiedelte konnte ein Familienvater mit seinem Einkommen die gesamte Familie ordentlich ernähren und sich zweimal im Jahr einen schönen Urlaub gönnen. Ein sozialer Kapitalismus prägte die Schweiz. Dann nach dem Jahrtausendwechsel wurde er Schritt für Schritt vom angelsächsischen Kapitalismus abgelöst.

Was ist heute unsere Arbeit noch wert? Die Arbeit bedeutet uns viel und Arbeit ist das, worüber wir uns definieren. Das wir uns zuerst über unseren Beruf definieren, als über die anderen Bereiche unseres Lebens, zeigen die stetig zunehmenden Zahlen der physisch Erkrankten. Unsere Arbeit ist ein Statussymbol und Selbstverwirklichung und sie verortet uns in der Gesellschaft an ihren Platz. Den Wert unserer Arbeit ist von politischen Konstellationen abhängig und nicht vom Wert der Arbeit selbst.

Zu Zeiten der Weltfinanzkrise 2008/2009 bis heute galten zum Beispiel Banken als systemrelevant. Während der Coronakrise geht es nun wieder um Systemrelevanz. Aber dieses Mal stehen ganz andere im Blickpunkt wie Ärzte, Pfleger, Bauern, Erntehelfer und viele andere die einen «echten, realen« Beitrag für die Gesellschaft leisten und nicht die Banken.

Was ist Arbeit für uns

Unsere Arbeit stiftet Sinn und gibt uns das Gefühl, etwas Wert zu sein. Ehrlich: Wer Arbeit hat, der hat Stolz. Ich erlebe seit 1992, dass das gesamte Wertesystem der Arbeit bedenklich abgesackt ist und sehe keine Anzeichen, dass sie sich wiederaufrichtet. Die Arbeit ist der Kleber, der die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zusammenhält. Überall da, wo die Arbeitslosigkeit, die Armut hoch ist, sind die Gesellschaften politisch instabiler als jene, denen es besser geht. Den Menschen geht es gesundheitlich besser und sie sind aktiver in allen Bereichen des Lebens.

Das absurde gesellschaftliche Diktum, Arbeitskraft muss sehr billig sein, verändert die gesamte Ausbildung. Berufe die bisher als angesehen und erstrebenswert galten und gut bezahlt, werden wegfallen. Jeden Tag ist darüber zu spekulieren, welcher Beruf überhaupt noch eine Zukunft haben wird und welche Berufe sich weiterentwickeln lassen. Einen Beruf auszusuchen, der bis zur Pensionierung reicht, ohne das er vorher wegrationalisiert oder die Arbeitsbedingungen so schlecht werden, dass man von ihnen nicht mehr lebenswert leben kann.

Wegsehen und Leugnen

Ich frage mich schon lange, wie es in einem Land wie der Schweiz, dem es wirtschaftlich und politisch sehr gut geht dazu kommen konnte, dass immer mehr Menschen von ihrer Arbeit kaum noch leben können?

In den Eindruck von der abrutschenden Arbeitswelt scheinen aber die vielen Meldungen der Politiker und dem Fernsehen nicht hinein zusammen, dass es unserer Wirtschaft gut geht. Die augenblickliche Pandemie ist dabei nur eine Verschnaufpause im Wettlauf vom immer höher und immer schneller.

Die blossen Beschäftigungszahlen, – wenn sie auch im Herbst weiter fallen werden – zeigen nicht, dass immer mehr Menschen zunehmend von der Produktivitätsentwicklung abgehängt werden oder es bereits schon sind. Wir können uns von unserem Lohn tatsächlich immer weniger leisten und fahren deshalb auch ins nahe Grenzgebiet um dort billiger einkaufen. In unserer Schweizerischen sozialen Marktwirtschaft funktioniert einiges schon lange nicht mehr so, wie es sollte. All jene am Rand unsere Gesellschaft fühlen sich zunehmend abgehängt vom Wohlstand jener in der Mitte.

Auf dem Papier geht es uns allen besser als es unseren Eltern ging. Doch wir müssen uns deutlich mehr anstrengen, um einen vergleichbaren Status zu erreichen. Wir müssen deutlich geografisch und geistig flexibler sein. Wir müssen uns selbst vermarkten und notfalls auf Kosten der Kollegen. Wer sich in dem Karussell nicht mit dreht, der fliegt raus. Bei vielen die noch eine Arbeit haben, haben das Gefühl in einem Hamsterrad zu sein, in dem man immer weiterlaufen muss, um nicht auszurutschen und herauszufallen.

Die rasanter werdenden Umwälzungen am Arbeitsmarkt, die noch eine neue Triebfeder hinzubekommen hat, – die Pandemie und ihrer Auswirkungen – lassen die «versteckte» Armut weiter steigen.

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