Wenn es zum Leben nicht mehr reicht

Was macht die Entwertung unserer Arbeit mit uns

Ich als Kundenberater treffe immer wieder in meinen Beratungen Menschen an, die das Gefühl haben, sich heute deutlich mehr abzustrampeln zu müssen als früher. Sie heute mehr leisten müssen, um einen Lebensstandard zu erreichen und zu halten, den aber ihre Elterngeneration mit signifikant weniger Aufwand und Zukunftssorgen erwarben.

Gerade in der Schweiz, aber auch in Deutschland betrachten wir die Selbstausbeutung in allen Bereichen unseres Lebens, – vor allem in unserer Arbeitswelt – als etwas Heroisches. Hier meine ich nicht die, die diese Menschen nur benutzen, ausnutzen, um ihre eigenen Ziele zu erreichen, aber diesen Menschen nichts zurückgeben. Die, die sich mit Medikamenten dopen, um länger arbeiten zu können, bessere Arbeitser-gebnisse zu erzielen, wird oftmals dafür bewundert, anstatt bedauert zu werden. Die Digitalisierung, die ständige Verfügbarkeit und jetzt mit der Corona-Pandemie verstär-ken Angst, ersetzt zu werden, macht sie ganz verrückt und lethargisch.

Als heutiger Kundenberater

Laut Statistiken geht uns genauso gut wie unseren Eltern oder besser, aber die gefühlte Lebenswahrheit in unserer Gesellschaft ist oftmals eine andere. Die aller-meisten von uns fühlen sich, als würden sie im Kreis laufen und nicht weiterkommen. Sie laufen und laufen unter der Woche, am Wochenende und auch in ihren Ferien. Stehenbleiben, inne zu halten, ist vielen fremd.

In der Zeit als ich für eine grosse schweizerische Bank in der Softwareentwicklung tätig war, habe ich mich mit Mitarbeitenden umgeben, die Spass und Freude an dem hatten was sie machten. Sie sich auf mein Wort verlassen konnten. Ich konnte mich weitest-gehend darauf konzentrieren, dass sie weiterhin die besten Arbeits- und Rahmenbe-dingungen vorfinden. Während meine Kollegen ständig «online» waren, um Dinge zu regeln, habe ich die Zeit ausserhalb der Firma entspannt genossen.

Ich sass kürzlich mit einem 78.-jährigen Vermögensverwalter und Finanzplaner zusam-men und wir beide sind froh, nicht mehr zu der jungen Generation zu gehören.

Geleugnete Volkskrankheit «Depression»

Viele sind nur dank verschreibungspflichtiger Medikamente fit in ihrem Job. Sie nehmen Beruhigungspillen, um sich besser und länger konzentrieren zu können oder nicht durchzudrehen. Immer unter dem Druck, sonst nicht am Arbeitsmarkt mithalten zu können.

Nun das ist keine Erfindung der Neuzeit, nein das gab es auch schon bei unseren Eltern, um dem Druck im Job mit ab- oder abregender Mittel zu begegnen. So war der Alkohol in den Fünfziger- und Sechzigerjahren allgegenwärtig. Heute haben Pillen den Alkohol ersetzt. Der Unterschied zu der Zeit unserer Vorfahren ist, dass die Gletscher nicht so schnell abschmolzen, wie sie es heute tun.

Diffamiert vom Arbeitsmarkt

Dass offenbar viele tauschende Menschen derart unter Druck stehen zeigt erneut, dass unsere so gelobte soziale schweizerische Marktwirtschaft, doch deutlich weniger sozial als Markt ist. Wir müssen uns jeden Tag aufs Neue beweisen, weil wir unter Druck stehen. Wir sonst Gefahr laufen unseren Arbeitsplatz zu verlieren oder unsere Miete oder Hypothek nicht mehr bezahlen zu können. So ist es nachvollziehbar, dass viele nur noch dank Aufputschmitteln mithalten und durchhalten können.

Für all diejenigen, die trotz aller Versuche nicht mehr mithalten können – weil sie ernsthaft krank werden – sieht es zunehmend schlechter aus. Wie in den Medien zu lesen, mehren sich die skandalösen Fälle bei denen gewisse Ärzte zu Ungunsten von Menschen mit Behinderungen unseriöse IV-Gutachten erstellt haben. Bundesrat Alain Berset hat deshalb eine externe Untersuchung eingeleitet, die die Missstände unter-suchen und Handlungsbedarf aufzeigen soll. Es war publik geworden, dass sich die IV-Stellen immer wieder Aufträge Gutachtern gaben, die tendenziöse Einschätzungen liefern. An Ärzte, die teilweise Millionenbeträge bekommen und im Gegenzug syste-matisch die Arbeitsfähigkeit zu hoch einschätzen– dies auch immer mal wieder völlig gegensätzlich zu den Einschätzungen der behandelnden Ärzte. Dieses Verhalten war bisher nur in der privaten Marktwirtschaft bei den Versicherungen üblich. Welche Massnahmen aus den Ergebnissen aus dem Bericht umgesetzt werden, bleibt abzu-warten. Zu glauben, es würde danach aber besser, wird enttäuscht werden. Für die, die sich nicht mehr in der Gesellsaft und Arbeitswelt zurecht finden, ist immer weniger Geld aus der Solidargemeinschaft da. In weiten Teilen der Politik ist das so gewollt und die Begründung liefern sie auch gleich mit. Es gibt immer mehr Berufsunfähige Menschen, die von der Solidargemeinschaft versorgt werden müssen.

Solidarität – eine Worthülse

Ich war überrascht und erstrocken, als ich während dem Lock-down von einer Freundin, die bei der Polizei arbeitet, hörte, dass die Denunzierung ein unglaubliches Ausmass hätte. Gerade in den grösseren Städten sei es besonders schlimm. Wir als Schweizer Gesellschaft leisten uns immer weniger Solidarität mit denen, die darauf angewiesen sind. Hier im Besonderen mit denjenigen, die berufsunfähig werden.

Mich wundert es angesichts der vielen bedenklichen Entwicklung am Arbeitsmarkt nicht, dass die Zahl derer steigt, die mit den ständig wachsenden Anforderungen nicht Schritt halten können. Für die Schweiz ist es ein Armutszeugnis.

Wer sich über das Thema «Solidarität» in einer Gesellschaft und des Staates ausführ-licher befassen möchte, der sollte das LI-Paper von Oliver Kessler «Solidarität als Wert der freien Zivilgesellschaft» lesen. Ich möchte hier jedoch festhalten, dass ich in vielem nicht gleicher Auffassung wie der Autor bin.

Ich habe in meinem Leben immer wieder Menschen kennengelernt, die zu den Ver-lierern des Systems gehören. Was die meisten verbindet, ist das Gefühl, dass er allein gelassen wurde. Diese Menschen lebten jahrzehntlang in dem Glauben: Sollte ihnen etwas Schlimmes zustossen, sind sie schon abgesichert. Wofür gibt es schliesslich das dichte Netz aus staatlicher Sicherung, Sicherung aus den Pensionskassen, Krank-enkassen und privater Versicherung? In meinen Beratungen zeige ich meinen Kunden zu diesen Themen immer wieder verschiedene Rechtsprechungen, was meist nicht ihrer Wirkung verfehlt. Es ist nicht zu übersehen, dass den Menschen die Hilfe an-fordern deutlich mehr Steine in den Weg geworfen werden als noch vor 10 oder 20 Jahren.

Ich gehe davon aus, dass zukünftig immer weniger Menschen es schaffen werden, bis zu ihrer Pensionierung durchzuarbeiten.

Ernüchterung und ist Solidarität noch finanzierbar

Am Ende dieses kurzen Artikels bleibt mir nur die nüchterne Feststellung: Recht haben und Recht bekommen ist selbst in einem Land wie die Schweiz mit einem der dicht-esten soziale Netze am Ende doch nicht ein und dasselbe. Es scheint, dass sich die Sachbearbeiter und die Politiker sich dem Zeitgeist unterordnen. Denn wenn schon die Arbeit in der Schweiz nicht viel mehr kosten darf, dann darf in dieser Logik die Versorg-ung jeder, die nicht mehr oder nur eingeschränkt arbeiten, erst recht nichts mehr kosten. Die Menschen immer mehr allein und sich überlassen werden, dabei die Ge-sellschaft und unserer Demokratie als gesamtes in Mitleidenschaft gezogen werden.

Für mich wäre die Vollversicherung des einzelnen erstrebenswert. Wer also bisher 4000 Franken zur Verfügung (netto) hatte, sollte auch in einer Notlage gleich viel ausgeben können. Nur leider ist unsere schweizerische Gesellschaft nicht ideal, denn bei einer Vollversicherung zieht nicht jeder die Arbeit des «Seins» vor und Arbeitsun-fähigkeit lässt sich oft nicht objektiv belegen und Depressionen noch viel weniger.

Was in Studien empirisch belegt wurde ist, dass je höher die Sozialleistungen, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass Unberechtigte Sozialleistungen beantragen und erhalten. Andere Studien faden heraus, dass Kontrolle ein kein nützliches Instrument gegen solchen Missbrauch ist und zudem sie einen Teil der wirklich Berechtigten die Unterstützung zu Unrecht verwehrt. Niedrige Sozialleistungen bewirken zwar weniger Missbrauch, allerdings um den Preis einer weniger optimalen Absicherung.

Die Schweiz kann man mit ihrem grosszügigen Sozialsystem ein ordentliches Zeugnis ausstellen. Das mag zu einem daran liegen, dass besonders gute Kontrollen die unbe-rechtigten Bezüger abschrecken und zum anderen, dass viele Bürger einfach zu «anständig» sind. Denn viele, die Anspruch auf staatliche Leistungen hätten, bean-spruchen sie nicht. Auch gibt es eine grosse Gruppe von Menschen, die nicht wissen, dass sie Anspruch auf Leistungen hätten. Das ist auch eine Aufgabe der Finanzberater und -Planer, diese Menschen hier zu unterstützen und nicht nur präsent zu sein, wenn Geld zu verdienen ist.

Ich kann aus meinen mittelbaren und unmittelbaren Beratungen bestätigen, dass viele Menschen Anrecht auf Hilfe hätten, sie aber diese nicht in Anspruch nehmen. Solange die Hemmungen bei vielen allein gelassenen Menschen bestehen, bleiben die hohen Sozialleistungen und die grosszügigen Subventionen der Schweiz wohl noch eine Weile finanzierbar.

Was aber die soziale Absicherung immer schwieriger macht ist nicht der demo-grafische Wandel von Jung nach Alt, sondern die abnehmende Hemmung, doch Sozialleistungen zu beziehen.

Die Hemmung Sozialleistungen zu beanspruchen, sinkt auch in der Schweiz weiter. Wir zahlen Steuern im Vertrauen, dass sich die Mitmenschen an geschriebene und ungeschriebene Regeln halten. Der Anstand der Leistungsbezüger und die Moral der Steuerzahler bilden ein Gleichgewicht, das die Schweiz so lange im Mittel ausge-zeichnet hat. Sinkt nun der oft berechtigte Anstand, leidet die Steuermoral und der Sozialstaat der Schweiz ist nicht mehr finanzierbar. Der Balance zwischen Erwerbsein-kommen und Sozialleistungen gerät immer mehr ins ins Ungleichgewicht.

WordPress Lightbox